Wunschkonzert

Oft diskutiert, vielfältigst argumentiert: Rahmenbedingungen für einen besseren Unterricht. Betrachte ich die Maßnahmen seitens des Bildungsministeriums (bzw. seit 2015 der Bildungsdirektionen) der letzten Jahre, ist eine gewisse Tendenz in Richtung Standardisierung, Zentralisierung sowie Nivellierung in Richtung der fachlichen Mittelmäßigkeit zu beobachten. Was für die Primarstufe und möglicherweise auch für die Sekundarstufe I im Sinne eines Bildungskanons und definierter Mindestkompetenzen noch sinnvoll sein kann, wird spätestens in der Sekundarstufe II kontraproduktiv.

Standardisierung und Zentralisierung in Form von Bildungsstandards und standardisierten, zentral vorgegebenen Prüfungen, klingen erstmal natürlich grundsätzlich vernünftig, sollen sie doch Ungleichheit beseitigen. In der praktischen Anwendung entstehen dadurch aber diskussionswürdige Spannungsfelder, von denen ich einige aufzählen möchte:

  • Standardisierung ist die Antithese der gerne propagierten Individualisierung.
  • Standardisierte Prüfungen drängen Lehrkräfte, auf bestimmte Themenbereiche und Fragestellungen (im worst-case ein bereitgestellter Fragenkatalog, der einstudiert wird) hinzutrainieren. Da unterschiedliche Schulstandorte auch unterschiedlichsten Voraussetzungen gegenüberstehen, können standardisierte Prüfungen zwangsläufig nur eine Nivellierung auf das Mittelmaß bedeuten.
  • Die Abkehr von den Rahmenlehrplänen hin zu festgelegten Kompetenzbereichen und Themen, die pro Semester zentral vorgegeben sind, lässt kaum Freiheit für Themen und Technologien, die standortbezogen sinnvoll und notwendig wären.
  • Lehrpläne werden immer problematischer, umso granularer oder detaillierter diese vordefiniert sind. Bedenkt man, dass Lehrpläne oft 10 Jahre oder länger unverändert zur Anwendung kommen wird klar, worin das Problem besteht, speziell in technischen, wirtschaftlichen oder berufsbildenden Schulen.
  • Semestrierung, wie sie in den Oberstufen zum Einsatz kommen soll, erzeugt u.a. Druck auf die Auszubildenden und fördert einen Drift in Richtung tendenziell positiver Beurteilungen, um mehrmaliges Wiederholen von Prüfungen (auch im Sinne der Schüler) zu vermeiden. Weiters ist die Semestrierung ein enges Korsett, welches die Flexibilität, speziell in der Einteilung der Lehrinhalte, unnötig beschränkt und eine situative Verschiebung von Themen innerhalb eines Schuljahrs schwer möglich macht. Aufwand und Nutzen für die Schulgemeinschaft stehen durch die Aufpfropfung der Semestrierung auf das bisherige Jahrgangsmodell in keiner sinnvollen Relation. Der überwiegende Teil der HTLs z.B. entschied sich aus diesen und weiteren Gründen bisher (Stand 2021), die Semestrierung nicht freiwillig einzuführen.
  • Durch steigenden Administrationsaufwand bewegt sich die Tätigkeit der Lehrkräfte immer weiter weg von der Kerntätigkeit, der Vermittlung von Kompetenzen.
  • Es entsteht eine Situation der Schuldzuweisung in Richtung der Lehrkräfte, sollten Bildungsziele von einzelnen Schülern nicht erreicht werden. Lehrkräfte werden dann kreativ und tendieren zur eher positiven Beurteilung, um Anfeindungen und Aufwand in Grenzen zu halten. Dadurch entsteht eine Schweigespirale, ein Agreement der Minderleistung, mit dem dann scheinbar jeder zufrieden ist. Wird die Situation dadurch besser, dass Prüfungen zentralisiert werden? Nein, denn dann wird die zur Verfügung stehende Unterrichtszeit ausschließlich für das Training für den Test verwendet. Ich denke nicht, dass das ein zeitgemäßes Konzept ist.
  • Mein sehr subjektiver Eindruck: Die Fachkompetenz und Berufserfahrung der Lehrkräfte an berufsbildenden Schulen wird scheinbar immer weniger relevant. Pädagogische Crashkurse und Schulungen zu Bildungsstandards scheinen relevanter als fachliche Kompetenz zu sein.

Als Lehrkraft im technischen Bereich fürchte ich, dass wir schrittweise die Diversität und Flexibilität des berufsbildenden Systems in Österreich einer destruktiven Vereinheitlichung opfern. Kann es sinnvoll sein, dass die Rolle der Lehrkräfte als Fachexperten mit Berufserfahrung der jeweiligen Bereiche in Richtung Trainer von vordefinierten Inhalten, die auf standardisierte Prüfungen vorbereiten, verschoben wird? Es mag kostengünstiger, evaluierbarer, steuerbarer und kontrollierbarer sein.

Wir sehen viel Aktionismus, aber wenig Konkretes zur Verbesserung der Unterrichtssituation.

Es folgt nun mein persönliches Wunschkonzert für besseren Unterricht im Sinne der Schüler und Lehrkräfte, ohne Anspruch auf Vollständigkeit oder Allgemeingültigkeit:

  • Maximal 16 bis 20 Schüler pro Klasse, 8 pro Gruppe im Praxisunterricht.
  • Kein Semesterzeugnis, dafür 3-mal pro Schuljahr Information bezüglich Leistungsstand (Frühwarnsystem) und ein Jahres-Abschlusszeugnis mit Einschätzung der Eignung für die Ausbildung durch die Klassenkonferenz. Diese Einschätzung soll ausschließlich im ersten und zweiten Jahrgang erfolgen und ist eine unverbindliche Information in Richtung Eltern und Schüler.
  • Eignungs- und Orientierungsgespräche vor Schuleintritt.
  • Reduktion auf drei Noten: Nicht erfüllt; Erfüllt; Mit außergewöhnlicher Leistung erfüllt;
  • Maximal ein Drittel des Lehrplans in Form von standardisierten Inhalten und bereitgestellten Prüfungen, zwei Drittel durch die Fachgruppe am Standort auf Basis eines Rahmenlehrplans definiert.
  • Schulbeginn um 8 Uhr bzw. 8:30 Uhr um der Chronobiologie der Jugendlichen entgegenzukommen.
  • Blockunterricht anstatt verteilter Einzeleinheiten im praktischen Unterricht (mind. 3-Stunden-Blöcke).
  • Projekttage mit fachspezifischem Fokus inkl. Einheiten mit freier Arbeits-/Zeiteinteilung durch Schüler.
  • Ein Distance-Learning-Tag pro Woche für Schüler und Lehrkräfte im Home-Office um Kommunikations- und Selbstorganisationskompetenz sowie Technologie-Einsatz zu trainieren.
  • Ein System ähnlich der mittleren Reife, welches das Erreichen der Bildungsstandards in der Sekundarstufe I garantiert. Höhere Schulen und Universitäten können nicht die Lücken der Vorbildung füllen.
  • Abkehr von der Förderung von Unterrichtsmodellen, die hauptsächlich den schriftlichen Arbeitsauftrag und das Bereitstellen von Inhalten als Ausbildungskonzept propagieren. Dadurch entsteht keine Fachkompetenz, sondern Google-Kompetenz. Ausnahmen sehe ich in flipped-classroom-Konzepten.
  • Dialog mit der regionalen Wirtschaft, z.B. in Form von Vertiefungstagen im Abschlussjahrgang und Orientierung eines Teils des Lehrplans an lokale Anforderungen, natürlich innerhalb des übergeordneten Fachbereichs.
  • Keine mündlichen Abschlussprüfungen im Rahmen der Reifeprüfung, dafür ausführliche Diskussion und Präsentation der Diplomarbeiten auf vorwissenschaftlichem Niveau.
  • Zwei Einheiten pro Woche Raum für Vertiefung individueller Interessen der Schüler, wobei Lehrkräfte nur eine unterstützende Rolle einnehmen und nicht beurteilen.
  • Theorieunterricht in Form von Vorlesungen für alle Gruppen des Jahrgangs gleichzeitig in Hörsälen, Praxisunterricht in kleinen Gruppen in gut ausgestatteten Laboren.
  • Bekenntnis zu Leistung und Engagement anstatt Reduktion der Drop-Out-Quote als Dogma mit fatalen Folgen, nämlich durch die Ausbildung „gewurschtelte“ Absolventen, die in anderen Fachbereichen ihre Potenziale entfalten hätten können.
  • Nicht mal die FHs und Universitäten vertrauen auf die Bildungsstandards, warum wären sonst Aufnahmeprüfungen inzwischen Standard und Aufbaulehrgänge immer häufiger nötig?
  • Keine Wiederholung von Jahrgängen bei einem (1) Nicht genügend im Abschlusszeugnis, insofern der Gegenstand im vorhergehenden Jahrgang positiv war. Stattdessen ergänzender Förder-/Ergänzungsunterricht im nächsten Schuljahr.

Bewegen wir uns weg von Bürokratisierung der Bildung, weg von Zentralisierung, weg von ideologisch motiviertem Aktionismus – hin zum Vertrauen in die Kompetenz der Standorte und Freiheit der Lehre. Bitte, Danke.

Ein Satz noch zum Schluss: Das Bildungssystem ist viel besser als sein Ruf, ich bin immer wieder begeistert, wenn ich die Leistungen und das Engagement der Schüler und Lehrkräfte im Schulalltag sehe. Es hat sich vieles hin zum Besseren gewandelt, vor allem in den letzten 10 bis 15 Jahren. Wir dürfen diesen Prozess nicht durch Zentralisierung und Bürokratisierung, die ja grundsätzlich gut gemeint ist, gefährden. Und um es nochmal zu verdeutlichen: Meine Ausführungen beziehen sich ausschließlich auf berufsbildende Schulen der Sekundarstufe II.