Realität vs. ideologische Konstrukte

Wir sind auf dem Weg zum Safe-Space-Teletubbies-Land: Der öffentliche und mediale Diskurs wird dominiert von ideologischem Konstruktivismus, selbstgerechter Verbotsfantasterei, subjektiven Moralvorstellungen, persönlichen Befindlichkeiten und dem Aufschrei der Gekränkten und Beleidigten. Wir beschäftigen uns in einem ungesunden Ausmaß mit ideologiegetriebenen und subjektiven Weltbildern, dem Etablieren einer Verbotskultur sowie moralingeschwängerten Diskursen, die uns zu politisch korrekten Bessermenschen machen sollen – primär mit den Mitteln der Überzeichnung und des Alarmismus. Sind das Anzeichen einer Realitätsverweigerung, einer Ablenkungskultur oder sind wir unsere eigenen Kerkermeister?

Gesellschaftliche Konstrukte oder soziale Konstrukte im Sinne des Sozialkonstruktivismus sind Ergebnisse menschlichen Handelns, welche durch eine Mehrheit oder zumindest einer wirksamen Anzahl an Personen unter Umständen zu gesellschaftlicher Realität in Form von Tradition und Kultur werden können. Ein Beispiel dafür wäre unser Rechtssystem, welches durch die Ideologien und Anschauungen der jeweiligen Generationen einem stetigen Wandel unterworfen ist. Folglich handelt es sich bei gesellschaftlichen Konstrukten um Phänomene, deren intellektueller und ideologischer Ursprung im Denken individueller Gruppierungen liegt. Entsprechen diese Konstrukte nun nicht oder nicht mehr dem Willen eines überwiegenden Anteils der Gesamtheit, sind Nebenwirkungen – im besten Fall ein Diskurs, im schlimmsten Fall soziale Unruhen – vorprogrammiert.

Wir erleben aktuell den Aufstieg einer Form des Agenda-Konstruktivismus, dem erhebliches Schadpotenzial innewohnt. So gerne Menschen ihre Zeit und Aufmerksamkeit auf triviale Themen lenken, anstatt sich mit realpolitischen und oft schwierigen, komplexen Themen und wirtschaftlicher Realität zu beschäftigen, so gefährlich ist dieses sog. Ablenkungsverhalten. Dieses tritt auf, wenn Menschen sich bewusst oder unbewusst von herausfordernden oder unangenehmen Themen ablenken, um Stress oder Unbehagen zu vermeiden – die Priorisierung von Themen wird am Potenzial zur Selbsterhöhung und -darstellung (siehe Social Media) orientiert. Daraus leiten sich Phänomen wie beispielsweise das sog. white knighting (engl.) oder saviorism (engl.) ab.

Ideologische Konstrukte erreichen oft das Gegenteil von dem, was eigentlich beabsichtigt wäre: Sie blockieren den Fortschritt, indem sie entzweien, die Gesellschaft spalten und den Blick für zukunftsrelevante Themen vernebeln. All die Verschwörungserzählungen gehören ebenfalls zu den bereits genannten Themen, sie sind Konstrukte zum Zweck der Selbsterhöhung, des Selbstbetrugs oder Selbstablenkung jener, die diese propagieren. Ebenso ernennt sich manch eine(r) zum weißen Ritter und kämpft für Rechte bzw. ergreift das Wort für eine Gruppe, die diese Fürsprache gar nicht gutheißt oder überhaupt nötig hat: Selbsterhöhung, indem man sich einfach selbst zum Retter erklärt, zum weißen Ritter, der gegen Unrecht kämpft, das er selbst herbei konstruiert oder fantasiert.

Oft schwingt im Diskurs die Forderung nach staatlich angeordneten Verboten und Anlassrechtssprechung mit und spätestens dann wird es problematisch, wenn eine kleine Gruppe durch ihre Themensetzung die Mehrheit mittels gesinnungsorientierter oder ideologisch motivierter Rechtssprechung kontrollieren möchte.

Der Anspruch des modernen Wohlfahrtsstaates, jedes mit der Freiheit verbundene Risiko abzufedern, führt in eine autoritäre Gesellschaft. Schuld daran sind nicht die Politiker, sondern wir selbst.“

Alexander Grau, Kulturphilosoph

Extremismus und cancel-culture

Es gibt keine Moral, keine Rechtmäßigkeit, keine höhere Instanz des Guten, sondern nur Vorstellungen davon. Deterministische Definitionen, also jene, denen eine zB. physikalische Vorbedingung zugrunde liegt, werden im Diskurs gerne mit konstruierten Phänomenen vermischt oder ausgetauscht, manchmal unabsichtlich aus Unwissenheit, oft aber auch gezielt zu rhetorischen Zwecken.

Jene, die mit Wahrheit, Gerechtigkeit und Moral argumentieren oder kategorisch mit allen Arten von -ismen um sich werfen, suchen nicht den Konsens, sondern die Durchsetzung eigener Vorstellungen in Form von Zwang oder Verbot. So manche Auswüchse der Political Correctness, rechtsextreme Polemik und Cancel-Culture sind beispielsweise Konzepte, welche religionsartig inszeniert eine Verklärung der Realität zum Zwecke der Manipulation und Durchsetzung eigener Interessen dient. Sie erscheinen progressiv, sind aber in der Art und Weise der Diskursführung selbst zur eigenen Antithese geworden: zum extremen und faschistoiden.

„Das Recht zu sagen und zu drucken, was wir denken, ist eines jeden freien Menschen Recht, welches man ihm nicht nehmen könnte, ohne die widerwärtigste Tyrannei auszuüben. Dieses Vorrecht kommt uns von Grund auf zu; und es wäre abscheulich, dass jene, bei denen die Souveränität liegt, ihre Meinung nicht schriftlich sagen dürften.“

Voltaire, Philosoph und Schriftsteller

Georg Restle, Redaktionsleiter und Moderator eines ARD Politikmagazins, warf in einem Tweet vor kurzem die Frage auf: „Warum profitiert die Linke nicht mehr von der Krise? Warum werden gesellschaftliche Errungenschaften (LGBTIQ) von vielen nicht (mehr) geschätzt?“. Möglicherweise liegt es an der Themensetzung der heutigen Linksparteien, die immer mehr an der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Realität vorbeigeht. Ich gebe den Linksparteien vor allem in Österreich und Deutschland die Schuld, dass die extremistische Rechte in jener Form, die wir gerade erleben, erstarken konnte. Viele sehen offensichtlich die Alltagsprobleme durch das Agenda-Setting der Linken nicht mehr behandelt und gehen der Polemik der Rechten auf den Leim.

Beispiel: Sprachreinheit

Ein aktuell beliebtes Thema ist die Reinheit der Sprache, das Entfernen problematischer Begriffe und Nudging in Richtung bestimmter, von einer kleinen Gruppe präferierter Schreibweisen. Sterilität und Reinheit der Sprache, einer Sprache, die niemand beleidigen kann, sorgt nicht für Gleichheit, sondern zementiert die Feudalherrinnen und -herren in ihrer selbstverliebten Haltung: Sich als weiße Ritter zu sehen, die gegen Ungerechtigkeit kämpfen, die sie selbst verursachen. Wieder handelt es sich um Kompensationshandlungen zur Selbstberuhigung und moralischen Erhöhung, jedoch feststeckend in Handlungsunfähigkeit. Die Suche nach vermeintlichen sprachlichen Fehltritten, Unsensibilitäten und dem Radikalen führt zur Sterilität. Der Dichter und Autor Molière erkannte diese Mechanismen in seinem Theaterstück „Die lächerlichen Preziösen“.

Warum wird im öffentlichen Diskurs und in den sozialen Medien nicht mit gleicher Intensität und Eifer über Probleme diskutiert, von der eine größere Zahl an Menschen profitiert, von denen unser Wohlstand und die Zukunft abhängt. Es folgt eine super-subjektive Auswahl:

  • Mehr und härter anstatt weniger arbeiten in der Krise, um die Rezession zu bekämpfen
  • Das Erstarken von China und dessen wirtschaftliche Talfahrt, die eine Bedrohung für die gesamte Welt darstellt
  • Das Blockdenken von Neoimperialisten wie Putin oder Xi Jinping, die eine neue Weltordnung, auch mit Gewalt, etablieren möchten
  • Tiertransporte, Tierwohl. Nahrungsmittelsicherheit
  • Bandenkriminalität, Jugendkriminalität und Ghettoisierung ganzer Stadtteile
  • Unverhältnismäßige Teuerung, Gierflation
  • Warum immer mehr Jugendliche in Depression oder psychische Ausnahmesituationen abdriften
  • Schrumpfung der Bevölkerung, Zerfall familiärer Strukturen
  • Aufarbeitung des Covid-Managements
  • Einfluss Amerikas auf weltweite Krisen
  • Eine Antifa, die zusehends radikaler wird
  • Zinspolititk und Miete/Wohnbau
  • Quasi-Monopole bei der öffentlichen Versorgung
  • Rohstofflieferketten
  • Missbrauch des Sozialsystems
  • Wirtschaftsflucht
  • Bodenversiegelung, Umwidmung von Natur in Bauland
  • Renaturierung von Städten
  • stark steigender Substanzkonsum bei Kindern und Jugendlichen
  • Perspektivenlosigkeit, induziert durch die Weltuntergangsszenarien der Aktivisten und Alarmisten
  • Das neue Wettrüsten
  • Empathieverlust
  • Europas Rolle in der Zukunft
  • Firmenpleiten und kaum nachhaltige Wachstumspolitik
  • Religiös motivierte Übergriffe und Gewalt
  • Gesundheitssystem
  • Versagen von Teilen einer Elterngeneration, die es verabsäumt, ihren Kindern Perspektiven zu zeigen und vor der allgegenwärtigen Schwarzmalerei zu schütze

Ich höre schon im Hinterkopf das Argument der Relativierer: Dein Geschreibsel ist alles Whataboutism! Dieses Cancel-Argument kann ich jedoch nicht ernst nehmen. Es existiert de facto ein objektives Ranking der Problematiken und deren Impact auf die Gesellschaft, welches über das persönliche Befinden hinausgeht. Flacher Vergleich: Wenn ich mit Fußpilz und gebrochenem Arm zum Arzt gehe, und diesen um Behandlung des Fußpilzes ersuche, wird dieser auch primär die Armverletzung behandeln wollen.

Unsere Zeit und Energie ist begrenzt, fokussieren wir uns auf jene Themen, von denen eine Mehrheit real messbar profitiert, nicht auf den ideologisch motivierten Agenda-Konstruktivismus, der oft von kleinen Gruppen ausgeht und medial überrepräsentiert ist und primär der Selbsterhöhung selbst ernannter Meinungsführer dient.

Trigger-Disclaimer: Jedes Thema, egal ob es nun beispielsweise die Anliegen der Woken, der Covidleugner, der ewig-Gestrigen, der progressiven-um-jeden-Preis-Weltverbesserer, der Grenzen-Dichtmacher, der Wilkommensklatscher oder jene der Gekränkten und Beleidigten sind, hat einen diskussionswürdigen Kern – aber bitte ohne Verbotskeule, Diskreditierung, Cancel Culture und vor allem weniger aufgeregt. Nehmt euch nicht so wichtig, sprecht nicht selbstgerecht im Namen anderer und geht nicht davon aus, dass eure Wahrnehmung und Moral Grundlage einer allgemeinen Gesetzgebung sein könnten. Der Wille zum Guten allein ist nicht zwingend das, was moralisch gut ist.

Das Schlusswort hat diesmal WIZO