Cancel Cancel Culture

Das Fantasiemännchen Winnetou erregt die Gemüter der fantasiebefreiten Selbstgerechten, der Ravensburger Verlag cancelt daraufhin Karl May. Nachdem ja schon Ronja Maltzahn und Lauwarm sich nicht die Haare schneiden wollten, trifft es nun den Häuptling der Apachen: die Progressiven üben sich in Zensur, bzw. neudeutsch Cancel Culture oder politischer Korrektheit. Eigentlich interessieren mich weder Karl May, noch lauwarme Popsongs, doch wer hätte gedacht, dass im Jahr 2022 die Fortschrittlichen zu solch rückschrittlichen Mitteln greifen.

Wer Literatur oder Historie nicht im gesellschaftlichen Kontext jener vergangenen Zeiten verstehen kann, der oder die versteht auch nicht die Konsequenzen der eigenen, selbstgerechten Forderungen. Wer die Geschichte oder Gegenwart umschreiben oder auslöschen möchte, verhindert Fortschritt. Glücklicherweise ist es nur eine Minderheit, die jene intolerante Meinungshoheit fordert, die sich öfter auch gegen ihresgleichen richtet – siehe Maltzahn. Auch Vergniaud erkannte schließlich: „Die Revolution frisst ihre eigenen Kinder.“

Man muss da kein Drama draus machen, dem muss nur widersprochen werden. Das tut auch Nick Cave, der die Cancel Culture der Barmherzigkeit gegenüberstellt und sich wie folgt äußert:

Barmherzigkeit erkennt an, dass wir alle nicht perfekt sind, und gewährt uns damit den Sauerstoff zum Atmen – uns in einer Gesellschaft beschützt zu fühlen, gerade durch unsere gemeinsame Fehlerhaftigkeit . . . Ohne Barmherzigkeit wird eine Gesellschaft unflexibel, ängstlich, rachsüchtig und humorlos. In meinen Augen ist die Cancel Culture die Antithese zur Barmherzigkeit. Politische Korrektheit ist zur freudlosesten Religion der Welt geworden. Ihr einst ehrenhafter Versuch, die Gesellschaft neu und gerechter wahrzunehmen, beinhaltet nun die schlimmsten möglichen Merkmale von Religion (und keine ihrer Schönheiten) – moralische Gewissheit und Selbstgerechtigkeit, minus der Kraft zur Erlösung. Sie ist buchstäblich zu einer schlechten Religion geworden, die Amok läuft.

Nick Cave, issue #109